Anstelle einer Weihnachtsgeschichte
Achtung: Fiktion!
Vorwort
Der Entwurf zu einem Artikel über die Namensgebung des Dampfschiffes „Fürth“ liegt schon lange in meinem Blog-Ordner. Allerdings ist die Faktenlage sehr dünn, genauer gesagt besteht sie aus einem einzigen Satz in einer Stadtchronik.
Damit lässt sich natürlich kein seriöser, historisch belegbarer Blogartikel schreiben, wie Sie das hier sonst gewohnt sind. So kam mir die Idee, aus der Namensgebung des Dampfschiffs „Fürth“ eine fiktive Geschichte zu machen. Kenner der namengebenden Stadt Fürth werden allerdings bemerken, dass diese frei erfundene Geschichte mit sehr vielen realen Begebenheiten aus der Zeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchsetzt ist.
Aber auch Dampfschifffreunde (jetzt kennen Sie wieder ein Wort mit drei f!) werden einige großartige und bekannte Schiffe der damaligen Zeit in der Geschichte wiederfinden.
Genug des Vorworts, begeben wir uns in den Sommer 1906:

Titelseite des Kataloges der Fa. Ullmann und Engelmann 1902; der vollständige Katalog auf https://optical-toys.com
Fürth i. B., den 30. Juli 1906
So ganz konnte und wollte sich Kommerzienrat Justus Ullmann noch nicht an den neuen Namenszusatz „in Bayern“ gewöhnen. Aber nach Beschluss der Ministerialverwaltung vom April sollte die Stadt Fürth nunmehr diese Ergänzung tragen, um Verwechslungen mit anderen Orten gleichen Namens auszuschließen.
Zwar hatte Kommerzienrat Ullmann vor einiger Zeit auch eine dringliche Sendung im Odenwald aufstöbern müssen, aber „sein“ Fürth war nun einmal die mit Abstand größte und bedeutendste Stadt im Kaiserreich mit diesem Namen. Sollten doch die kleineren Orte einen Zusatz erhalten, aber doch nicht „sein“ Fürth!
Im allgemeinen Verkehrsinteresse hieß es, sei der Zusatz zu verwenden und so fügte sich der Seniorchef der Spielwaren-Exportfirma Ullmann & Engelmann diesem Entschluss und begann fortan in seinem Bureau in der Friedrichstraße 15, seine Korrespondenz mit Fürth i. B., auch wenn es ihm innerlich widerstrebte.

Auszug aus dem Katalog der Fa. Ullmann und Engelmann 1902; der vollständige Katalog auf https://optical-toys.com
Der Brief, den er seinem sprachkundigen und fleißigen Kommis diktieren wollte, war keiner der üblichen Korrespondenz, die er täglich mit Geschäftspartnern in vielen Ländern abwickelte. Deswegen musste er einen Augenblick reflektieren, wie er sein Ansinnen am besten formulieren könne. Er machte sich ebenfalls eine kurze Notiz, beim Nachdruck seiner Briefbögen bei Hermann Schröder in der Rosenstraße den Zusatz „i. B.“ gleich mit eindrucken zu lassen.
Kommerzienrat Ullmann war froh, dass er sich auf seine Mitarbeiter verlassen konnte. Für einen Augenblick schoss ihm eine Episode durch den Kopf, die sich in Fürth im Frühjahr zugetragen hatte. Ein Beamter der städtischen Wasserwerke hatte die erkleckliche Summe von über zwölftausend Mark veruntreut. Erst ein Revisor kam dem Manne auf die Schliche. Er erinnerte sich, die besagte Person im prächtigen Festsaal des Hotels „National“ gesehen zu haben, wo sie sich in großer Gesellschaft sehr spendabel zeigte und Kommerzienrat Ullmann hatte sich damals gefragt, wie gut man wohl bei der Stadt Fürth verdienen möge.

Auszug aus dem Katalog der Fa. Ullmann und Engelmann 1902; der vollständige Katalog auf https://optical-toys.com
Er dachte wieder an seinen Brief. Der Adressat des Schreibens war Direktor Otto Harms in Hamburg, Vorstand der Deutsch-Australischen Dampfschiffs-Gesellschaft. Mit ihm war Kommerzienrat Ullmann seit vielen Jahren in freundschaftlicher Beziehung und regelmäßigem Kontakt, war die Reederei doch Transporteur für seine Lieferungen nach Australien und sorgte mit ihren zuverlässigen Schiffen dafür, dass seine Waren stets termingetreu ausgeliefert wurden.
Außerdem war Harms ihm bei der Suche nach Geschäftsräumen für seine Hamburger Filiale in der Bergstraße behilflich gewesen, zu dessen Eröffnung er sogar den kurzen Weg von seinem Kontor im Börsenhof herübergekommen war, um ihn persönlich kennenzulernen. Kommerzienrat Ullmann war von dem hanseatischen Kaufmann sofort eingenommen und besonders sympathisch machte ihn die Tatsache, dass er als einer der wenigen Norddeutschen den Namen seiner Heimatstadt kurz und präzise aussprach und kein langgezogenes „Füüürth“ ertönen ließ.
Der australische Markt machte zwar nur einen kleinen Teil seines florierenden Exportgeschäftes aus, erfreute sich jedoch seit Jahren eines kontinuierlichen Wachstums, so dass er in den vergangenen drei Jahren seine Lieferungen verdoppeln konnte. Die Zeichen standen gut, dass sich das Geschäft in den nächsten Jahren weiter positiv entwickeln würde. Außerdem erfüllte es ihn mit einem gewissen Stolz, wenn Kinder am anderen Ende der Welt Freude an seinen Spielzeugen hatten.

Auszug aus dem Katalog der Fa. Ullmann und Engelmann 1902; der vollständige Katalog auf https://optical-toys.com
Heute wollte sich Kommerzienrat Ullmann jedoch mit einer Bitte an Herrn Direktor Harms wenden und so überlegte er eine ganze Weile, wie er denn seinen Brief beginnen könne. Trotz der guten Geschäftsentwicklung wurmte ihn es innerlich, wenn seine Katalogwaren auf Schiffen wie „Bielefeld“, „Itzehoe“ oder „Offenbach“ nach Australien gelangten.
Viele Städte hatten sich mittlerweile Dampfschiffe zu Botschaftern ihres Namens auserkoren und Kommerzienrat Ullmann fand, dass es Zeit wäre, seine Waren auch auf einem Schiff zu befördern, welches den Namen seiner aufstrebenden Heimatstadt „Fürth“ trug. Schließlich war es nicht nur er; viele Fabrikanten aus Fürth lieferten ebenso Waren in alle Welt und er dachte dabei an seine guten Bekannten Theodor Löwensohn, Oskar Kleefeld und Leopold Bendit.
Eigentlich hatte Kommerzienrat Ullmann den Brief schon früher absenden wollen, aber die vergangenen Monate waren zu ereignisreich. Andere Dinge waren auch schon viel zu lange liegengeblieben.

Auszug aus dem Katalog der Fa. Ullmann und Engelmann 1902; der vollständige Katalog auf https://optical-toys.com
Im April verstarb unerwartet Heinrich Berolzheimer, der ihm ein väterlicher Freund gewesen war und dessen Ableben ihn sehr schmerzte. Im Mai standen die Hochzeiten bei den Sahlmanns und den Löwensohns in seinem Kalendarium und schließlich galt es ebenfalls noch im Mai, die Jahrhundertfeier in Fürth vorzubereiten. Fürth war jetzt bereits einhundert Jahre beim Freistaate Bayern!
Zu den Feierlichkeiten hatte sich Prinz Ludwig angekündigt und so war verständlicherweise die ganze Stadt in Aufruhr und in höchster Erregung. Natürlich beteiligten sich auch alle bedeutenden Unternehmungen an den Vorbereitungen, um ihre Stadt im besten Lichte erscheinen zu lassen.
In seinem Elternhaus wurde immer noch gerne an ein Ereignis aus dem Jahre 1866 gedacht, als damals König Ludwig II. am 4. Dezember ganz unverhofft und überraschend nach Fürth gekommen war. Die kleine Marie Nathan musste ihm zusammen mit ihrer Freundin den Weg weisen. Anschließend traf der König in der Hauptsynagoge Oberrabbiner Dr. Issak Loewi und zur größten Freude seiner Familie ließ er sich anschließend zu ihren Geschäftsräumen in die Friedrichstraße kutschieren. Er selbst war damals elf Jahre alt und erinnerte sich noch gut an die stattliche Erscheinung des bayerischen Herrschers, der in ihren Räumlichkeiten sichtlich Freude an der Auswahl seiner Einkäufe hatte.

Auszug aus dem Katalog der Fa. Ullmann und Engelmann 1902; der vollständige Katalog auf https://optical-toys.com
In diesem Jahr, also genau vierzig Jahre später, war der Höhepunkt der Feierlichkeiten die Eröffnung des Berolzheimerianums am 26. Mai. Kommerzienrat Ullmann hätte sich nichts sehnlicher gewünscht, als dass der großherzige Stifter sein Volksbildungsheim noch selbst hätte einweihen können.
Als erstes galt es den Bahnhof zu schmücken, denn Prinz Ludwig sollte mit dem Schnellzug in Fürth eintreffen. Bei Sahlmanns herrschte die größte Aufregung: das Diner mit dem Prinzen sollte in ihrer Villa am Bahnhof stattfinden, wo er auch nächtigten würde. Für die jüdischen Bürger Fürths war es eine außerordentliche Genugtuung, dass der Wittelsbacher nicht im Hotel National logierte, sondern bei der Familie Sahlmann.
Seine Tätigkeit im Theatercomitée beanspruchte ebenfalls mehr Zeit, als Kommerzienrat Ullman voraussehen konnte. Endlich verfügte die Stadt seit nunmehr vier Jahren über eine repräsentative Spielstätte, die durch zahlreiche Spenden aus der Bevölkerung realisiert werden konnte. Auch er hatte sich seinerzeit mit einer stattlichen Summe beteiligt. Aber es hatte sich gelohnt. Die Einweihung dieses prachtvollen Theaters mit der Oper „Fidelio“ am 17. September 1902 war ein voller Erfolg gewesen und er war für einen Moment geneigt, in den Gefangenenchor des ersten Aufzuges einzustimmen, eine vortreffliche Szene!
Jetzt im Laufe des Monats Juli war es etwas ruhiger geworden, die Spendensammlung für den geplanten Bismarckturm auf der Hard kam gut voran und der nächste offizielle Termin in seinem Kalender war erst am ersten September, an dem er zur Eröffnung des neuen Pestalozzi-Schulhauses eingeladen war, einer Schule, die zurzeit etwas außerhalb der Stadt östlich der Erlanger Straße errichtet wurde.

Auszug aus dem Katalog der Fa. Ullmann und Engelmann 1902; der vollständige Katalog auf https://optical-toys.com
Den letzten Anstoß, den seit langer Zeit geplanten Brief nun endlich nach Hamburg zu senden und den Vorstand Otto Harms um die Benennung eines Australdampfers nach der Stadt „Fürth“ zu bitten, gab dann eine Einladung vom gestrigen Tage.
Der Kanalschiffer Weyermann hatte zu einer sonntäglichen Bootspartie zwischen Doos und Kronach geladen. Sein Schiff „Cäsar“ wurde von Pferden gezogen und Kommerzienrat Ullmann war nach der Fahrt überzeugt, dass sich diese Geschäftsidee in Fürth prächtig entwickeln könne.
Auf dem Kanal wurde hitzig über Sport debattiert. Es ging um die Streitigkeiten zwischen dem TV 1860 und seiner Fußballabteilung, der Spielvereinigung. Zurzeit spielte diese auf einer Wiese am Stadtpark, was freilich keine dauerhafte Lösung sein konnte und die Zahlung einer Pacht für einen Platz an der Vacher Straße wurde den Fußballern von den Turnern, die in der Mehrheit waren, nicht zugebilligt. So wurde eine bevorstehende Trennung beider Vereine als Lösung der unbefriedigenden Situation heiß diskutiert.
Mit freudigen Hipphipphurra-Rufen wurde dann das Schiff Weyermanns nach kurzer Rede festlich eingeweiht und es herrschte eine aufgeräumte und gelöste Atmosphäre. Die Diskussion um die Spielvereinigung war abgeflacht und die „Cäsar“ erreichte Kronach.
Bei der anschließenden Herrenpartie im Gasthaus Weigel hatten sie sich köstlich amüsiert. Vor allem der Name des Schiffes „Cäsar“ gab zu allerlei Spott Anlass. Die Welt war längst im Dampfschiff-Zeitalter angekommen und Herr Weyermann nannte ein antriebsloses, von Treidelpferden gezogenes Holzboot nach dem großen römischen Staatsmann Gaius Julius Caesar! Welch eine Anmaßung!

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Danach wurde lebhaft über Schifffahrt diskutiert. Das Blaue Band für die schnellste Atlantiküberquerung stand im Mittelpunkt. Die Runde schwärmte von Schiffen wie „Kronprinz Wilhelm“ oder „Kaiser Wilhelm II.“, beides vorzügliche deutsche Schiffe, die den englischen an Geschwindigkeit überlegen waren und mit denen eine Atlantiküberquerung mit über 23 Knoten in weniger als sechs Tagen bewerkstelligt werden konnte.
Theodor Löwensohn berichtete über die Anstrengungen der Engländer, den Deutschen das Blaue Band abzujagen und über die in Bau befindliche „Mauretania“, die im nächsten Jahr das größte Schiff der Welt werden würde und dessen Fertigstellung ungeduldig erwartet wurde. Die geplante Maschinenleistung von 78.000 PS würde die Atlantikquerung so schnell wie nie zuvor werden lassen! Er sah das Blaue Band für Deutschland in größter Gefahr.
Anschließend sinnierte Oscar Kleefeld, wie lange wohl ein Gespann von 78.000 Pferden wäre und wie viele Fässer Bier es ziehen könne. In solch ausgelassener Stimmung ging es dann am frühen Abend mit der Kutsche nach Fürth zurück.
Die Annehmlichkeiten der gestrigen Schifffahrt auf dem Ludwig-Donau-Main-Kanal und der Herrenpartie im Weigelschen Garten noch vor Augen, setzte Kommerzienrat Ullmann erneut zum Diktat an. Mittlerweile hatte er sich den kurzen Wortlaut des Briefes im Kopf genau zurechtgelegt.
Fürth i. B., den 30. Juli 1906
„Lieber Herr Direktor Harms,
Seit vielen Jahren sind wir nunmehr in freundschaftlichster Weise geschäftlich verbunden. Sie tragen mit ihren bestens ausgestatteten Schiffen und termintreuen Fahrten entscheidenden Antheil, dass sich unsere Geschäfte mit Australien in den letzten Jahren zu unserer besten Zufriedenheit entwickelt haben. Ich sage dies nicht nur als Vorstand der Firma Engelmann & Ullmann, sondern auch für den großen Kranze bedeutender Fürther Unternehmungen.
Zusammen sind wir zu der Auffassung gelangt, dass es an der Zeit wäre, ein Schiff nach unserer aufstrebenden Heimatstadt zu benennen, deren Firmen seit vielen Jahren Waren auf den Australdampfern Ihrer Gesellschaft in die ferne Welt befördern.
Meinen werten Kollegen und mir würde eine außerordentliche Befriedigung zutheil kommen, wenn mein Anliegen bei Ihnen auf offene Ohren stöße.
Ich bin, lieber Herr Direktor Harms,
ergebenst der Ihrige
Kommerzienrat Justus Ullmann“
Epilog
Das Dampfschiff „Fürth“ wurde von der Deutsch-Australischen Dampfschiffs-Gesellschaft im November 1906 bei der Flensburger-Schiffsbau-Gesellschaft bestellt und im August 1907 an die Reederei in Hamburg ausgeliefert. Das Dampfschiff begab sich am 24. August 1907 auf die Jungfernfahrt nach Australien, von der es nach fünf Monaten am 26. Januar 1908 zurückkehrte.
Kommerzienrat Justus Ullmann konnte diese Ereignisse nicht mehr miterleben. Er starb am 26. Januar 1907 im Alter von nur 51 Jahren und wurde auf dem Neuen Jüdischen Friedhof in Fürth beigesetzt.
Die vorliegende Kurzgeschichte ist rein fiktiv, wir wissen aus einem Eintrag in der Käppner-Chronik vom 26. Februar 1908 nur folgendes:
„Die deutsch-australische Dampfschiffahrtsgesellschaft – Sitz in Hamburg – hat auf Anregung der hiesigen Firma Ullmann und Engelmann einem ihrer Frachtdampfer den Namen „Fürth“ gegeben.“
Nähere Einzelheiten dazu sind nicht bekannt.
ENDE
Die Abbildungen im Text stammen aus einer Preisliste der Fa. Ullmann & Engelmann, 1902.
Die komplette Preisliste und noch viel mehr sehr schöne Kataloge aus der damaligen Zeit finden Sie auf der wunderbaren Internetseite Optical Toys – A Virtual Musuem (www.optical-toys.com), der privaten Seite eines Sammlers von Spielzeugprojektoren.

Todesanzeige Justus Ullmann, Berliner Zeitung, 29. Januar 1907

Grab von Justus Ullmann, Neuer Jüdischer Friedhof Fürth, eigene Aufnahme 2018